Samstag, 26. April 2014

Von Vorurteilen und mangelndem Anstand

Ich gehe ja mittlerweile überall ohne Perücke hin. Nicht, weil ich provozieren will oder unbedingt auffallen oder weil ich meine, ich wäre besonders cool, sondern einfach, weil ich von der Perücke mit dem ständigen Druck Kopfschmerzen bekomme, weil ich immer das Gefühl habe, sie rutscht und ich muss mein Skalp wieder richtig hinziehen (und das sieht wirklich blöd aus, wenn man seine Frisur wieder 2 cm tiefer setzt) und weil ich bei dem warmen Wetter drunter schwitze wie ein Schweinchen...
Bisher habe ich auch noch keinerlei negative Rückmeldung dafür bekommen. Bis ich letztens bei Aldi war. Da liefen hinter mir zwei junge Männer rein und der eine meinte relativ leise (wahrscheinlich war es also nicht für meine Ohren bestimmt): "Oh, kuck mal, eine Nacktschnecke". Als ich mich umdrehte, sah ich einen nicht eben schlanken jungen Mann mit Schnauzer - und mir lag ein "Oh, kuck mal, ein Walross" auf der Zunge. Da er aber zumindest den Anstand hatte, rot zu werden, hab ich ihm noch einen schönen Tag gewünscht und mich wieder umgedreht.

Mich hat dieser Spruch nicht fertig gemacht, auch nicht aus der Bahn geworfen oder sonst wie tief berührt - er hat mich nur zum Nachdenken gebracht.
Zuerst habe ich mir gedacht, wie arm das doch ist, so einen Spruch über jemanden zu reißen, der anders ist, ohne zu Wissen, was dahinter steckt.
Dann musste ich mir aber eingestehen, dass auch ich dazu neige, derlei Vorurteile zu haben. Ich denke mir z. B. öfters mal bei Kindernamen "Wie kann man nur? Armes Kind" und bei einer bestimmten Art von Namen habe ich sofort im Hinterkopf, ob das wohl eine potentielle Klientenfamilie ist. Nur vom Namen her, ohne was zu wissen.
Insgesamt glaube ich, dass jeder Vorurteile hat. Sie sind geprägt von unserer Erziehung, der Meinung unserer Eltern/anderer wichtiger Menschen in unserem Leben und unserer eigenen Erfahrung.Wenn mich zum 10 Mal ein Radler fast zusammengefahren hat komme ich wahrscheinlich irgendwann an den Punkt, dass ich Radler doof und rücksichtslos finde.
An sich sind Vorurteile auch kein Problem. Sie helfen uns, die unglaublich vielen auf uns einströmenden Reize, Eindrücke und Faktoren schnell einzuordnen und Entscheidungen zu treffen.
Wichtig dabei ist meiner Meinung nach, dass wir uns immer wieder mal bewusst machen, DASS wir Vorurteile haben und uns in wirklich wichtigen Entscheidungen nochmal selbst hinterfragen, ob die richtigen Faktoren ausschlaggebend für eine Entscheidung waren.
Wenn ich in der U-Bahn entscheiden muss, ob ich mich auf Sitz A oder auf Sitz B setze und mich aufgrund eines Vorurteils (z.B. "Menschen mit roten Schuhen sind blöd", also setze ich mich neben niemanden mit roten Schuhen) gegen A entscheide, ist das egal. Wenn ich als Chef einen Mitarbeiter suche und den besser Passenden nur aufgrund eines Vorurteils (z. B. wegen der Religionszugehörigkeit) nicht nehme, ist das auf der einen Seite diskriminierend, auf der anderen Seite (und das finde ich viel wichtiger) schlichtweg dumm.

Wenn man bereit ist, seine Vorurteile ab und zu zu überdenken und über seinen Schatten zu springen, kann man außerdem immer wieder feststellen, dass gar nicht alle Menschen mit roten Schuhen blöd sind. Genausowenig wie alle Farbigen böse oder alle Juden geldgierig oder alle Ausländer faul. Wenn man bereit ist, seine eigenen Erfahrungen zu machen (in Situationen, wo man dafür Zeit hat und nicht blitzschnell zwischen A und B entscheiden muss) wird man feststellen, dass es ganz viele Ausnahmen zu den Vorurteilen gibt und viele davon sogar "vom Boi weg" nicht stimmen. Man kann als Tabea-Cheyenne glücklich sein und stolz auf seinen Namen, man kann als Chantal völlig ohne Familienhilfe durchs Leben kommen und als Kevin einen Doktor machen.

Oft sind also Vorurteile nur Vor-Verurteilungen. Und sie spiegeln wieder, dass man sich selbst als "besser" wahrnimmt. Fraglich, ob man das tatsächlich in vielen Fällen ist. Die Tatsache, dass ich schlanker bin, als jemand anderes macht mich ja nicht automatisch zu einem besseren Menschen und den anderen auch nicht zu einer dummen fetten Sau.

Mein Fazit ist: Vorurteile hat jeder und solange man sie a) nicht als unverrückbare Wahrheit nimmt und sie b) noch mit so viel Höflichkeit gepaart sind, sich dem Vor-Verurteilten gegenüber nichts anmerken zu lassen, sind sie kein großes Problem.

Und bei was habt ihr Vorurteile?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen